Damit soll der Pflegeberuf attraktiver werden und dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Das will der Gesetzgeber garantieren und hat nun die Tariftreue gesetzlich geregelt. Das bedeutet, nur noch Betreiber erhalten oder behalten einen Versorgungsvertrag, die einen Tarifvertrag haben oder sich an einem geltenden Tarifvertrag orientieren.
Diese Regelung ist ein eindrucksvolles Beispiel zum Umgang mit Reformen in 25 Jahren Pflegeversicherung. Seit 1995 beschäftige ich mich mit dem Thema Altenhilfe, damals ist die Pflegeversicherung eingeführt worden. Ich habe in annähernd jährlichen Abständen zahllose Reformen miterlebt, alleine in den letzten Jahren u.a.
- Pflegeneuausrichtungsgesetz PNG 2012/2013
- Pflegestärkungsgesetze PSG I bis III 2015 bis 2017
- Pflegepersonalstärkungsgesetz PpSG 2019
- Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserunggesetz GPVG 2021
Von den landesrechtlichen Novellierungen und Neuerungen ganz zu schweigen. Als die Pflegeversicherung 1995 unter Norbert Blüm (Arbeits- und Sozialministerium, Gesundheitsminister war Seehofer ) eingeführt worden ist, war das hauptsächliche Anliegen, den pflegebedingten Aufwand abzudecken, damit Menschen nicht wegen des Pflegerisikos in Armut verfallen, bzw. von der Sozialhilfe abhängig werden. Ein Blick in § 4 II SGB XI macht dann auch klar, dass es nur um den pflegebedingten Aufwand ging, nicht um Unterkunft und Verpflegung. Angehörige, familiäre und nachbarschaftliche Strukturen sowie ehrenamtliche Dienste wurden in der Unterstützung einkalkuliert, und es mag wohl sein, dass in der Folge bei den allermeisten Menschen angekommen ist, dass es sich um eine Vollversicherung handelt und nicht um das was sie ist, nämlich eine Teilversicherung. Unter uns Kollegen damals, ich kann mich noch erinnern, ist sowas wie eine Aufbruchstimmung und Begeisterung entstanden, einmal das eine so große Reform noch möglich ist und dann die Perspektive dafür wie die Pflege sich entwickeln würde. Wir hatten damals die Vorstellung, dass Pflege in der Zukunft was ganz anderes sein würde als bis dahin, dass man alles was pflegerelevant ist, auch an den Schnittstellen zu medizinischen und klinischen Bereichen wie Innere, Orthopädie, Neurologie usw. in den Krankenhäusern zu neuen Einheiten umformen und zusammenfassen würde. Wer die Verweildauern in diesen Abteilungen und die Herausforderungen auch dort an ältere und eventuell kognitiv veränderte Patienten kennt, kann das nachvollziehen. Wir dachten, es würde sich über die Altenpflege hinaus etwas die spezielle Pflegeeinrichtung als Versorgungsform entwickeln. Das hat sich leider nicht erfüllt.
Die Profession Altenpflege ist ja eine deutsche Besonderheit, und es mag sein, dass die Änderungen hin zur generalistischen Ausbildung nun in der Folge auch andere Entwicklungen in der Pflege auslösen.
Die neue Pflegeversicherung hatte fast revolutionäre Neuerungen:
Es gab keine Bedarfsbestätigung nach § 93 BSHG (Heute SGB XII) mehr, die Grundlage einer damals noch notwendigen Heimbetriebserlaubnis war. Es gab einen Anspruch auf einen Versorgungsvertrag, und das auch unabhängig von eventuellen Bedarfsprüfungen. Bei einer notwendigen Auswahl unter mehreren Trägern sollte der Vorrang für freigemeinnützige und private Träger gelten. „Ambulant vor stationär“ (und daran erinnere ich mich immer, wenn darüber gesprochen wird, man brauche stationäre Pflege nicht; das sehe ich anders, jedenfalls solange es die bestehenden Strukturen gibt). „Reha vor Pflege“ waren weitere Stichworte die elektrisierten.
Entscheidende Überlegungen für all diese Änderungen und diese Vorgehensweise war, die Herausforderung der demografischen Entwicklung und der stark steigenden Zahl von Pflegebedürftigen zu meistern, damit die nötige Infrastruktur zu schaffen um die Pflegebedürftigen auch vernünftig versorgen zu können. Dafür hätte eigentlich klar sein müssen, dass hierfür Kapital von institutionellen Einheiten eingesetzt wird und auch große Strukturen notwendig sind. So ist es auch gekommen, allerdings vermisst man wie viele anderen Dinge auch, eine vernünftige, betriebswirtschaftlich sinnvolle Darstellung solcher Strukturen in den Entgelten. Die gegenwärtige wirtschaftliche Darstellung nebst Personalschlüsseln ist nicht geeignet größere Trägerstrukturen vernünftig abzubilden. Hier geht es auch um Professionalisierung und Ressourcen für Konzeption und Innovation. Und wir haben ein gravierendes Problem mit der Bewertung von Risiken, Wagnis und Gewinn. Hier gibt es keine klare, betriebswirtschaftlich sinnvolle und tragfähige Regelung, und das vor dem Hintergrund, dass wir mit den anstehenden Änderungen wieder in Richtung Selbstkostendeckung kommen.
Natürlich hat es auch Fehlentwicklungen gegeben, gängiges Beispiel des 120 Bettenhauses in einer Gemeinde mit 3000 Einwohnern (Anmerkung: ich verstehe bis heute nicht, warum es nicht im Baurecht eine Vorgabe der Maßstäblichkeit oder relativen Geeignetheit gibt) oder publizierte hohe Renditen bei Immobilienunternehmen, die allerdings leider oft in einen Topf geworfen werden mit Betreiberrenditen.
Allerdings daraus den Schluss zu ziehen, dass alles schlecht ist und früher alles besser, geht fehl. Die Pflegeversicherung hat ihr von Anfang an angelegtes Potenzial nicht ausgeschöpft, ist reformbedürftig, man kann einiges besser machen, aber es ist eine Erfolgsgeschichte, nicht nur wegen der gleichzeitig auch bewältigten Wiedervereinigung. Wer heute fordert, private Träger und Gewinnstreben abzuschaffen, dem empfehle ich einen Blick in die Bestände und die Infrastruktur vor Einführung der Pflegeversicherung. Das war in Teilen veraltet, es gab noch viele Dreibettzimmer, und es gab ein Verständnis von „Beantragung eines Heimplatzes“ und „Zuweisung“ dort wo etwas frei war, leider immer noch nicht vergangen ein Verständnis von staatlicher Wohltat am Menschen als Objekt.
Letztlich hat die Einführung der Pflegeversicherung, auch wenn Sie heute den pflegebedingten Aufwand nicht mehr vollständig abdeckt und natürlich weiterentwickelt werden muss, einen entscheiden Beitrag dazu geleistet, der stark steigenden Zahl von Pflegebedürftigen gerecht zu werden, heute 4,6 Millionen und noch eine weitere Steigerung bis sechs Millionen aller Voraussicht nach. Was sich allerdings wie ein roter Faden durch die gesamte Gestaltung zieht, ist der Eindruck, dass immer eher unter der Brille der Sozialhilfelasten, der Beitragssätze und der fiskalischen und föderalen Zwänge auf das System geschaut wird als aus der Perspektive der Bewohner, der Kunden und der Mitarbeitenden.
Ein Beispiel für die Perspektive der Kunden: Verbundeinrichtung als Kombination von stationärer Pflege und Betreutem Wohnen. Es herrscht totales Unverständnis dafür, dass der ambulante und der stationäre Bereich getrennt sind. Die Menschen ziehen deswegen dort ein, weil sie sich vorstellen, dass ohnehin Pflegekräfte da sind, die dann auch für Sie zur Verfügung stehen. Sie verstehen nicht, dass es zwei rechtlich und organisatorisch völlig getrennte Teile sind. Diese Sektorisierung der Pflege in ambulant und stationär ist ein grundsätzliches Problem.
Ich bin ein Anhänger der Ideen der Initiative Pro Pflegereform und des darin erstellten Rothgang Gutachtens mit der Forderung nach einem Abbau der Sektoren, was kurz gesagt auch dazu führen würde, dass wir von Unterschieden zwischen ambulant und stationär nicht mehr sprechen bräuchten. Pflege wäre immer gleich zu betrachten, nach einem Zuwahl- und nicht einem Abwahlprinzip, egal an welchem Ort sie erfolgt. Wahrscheinlich würden wir auch die gesamte Problematik der Unterscheidung Heim oder nicht, WG oder ambulant, nicht mehr haben.
Der nächste Punkt: Perspektive der Mitarbeitenden: Personalschlüssel
Schon das Zustandekommen der Personalschlüssel ist bei vertiefter Betrachtung insuffizient und hatte Annahmen, die mit einer genauen Betrachtung nichts zu tun hatten, auch nicht mit einer bedarfsgerechten Zuordnung. Spätestens nach der Föderalismusreform gelten dann 16 unterschiedliche Regelungen. Das bedeutet dann zugespitzt: wenn in Baden-Württemberg ein Haus mit 100 Plätzen 50 Mitarbeiter hat, hat das Haus mit 100 Plätzen in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 10 Stellen weniger. Das ist nicht zu vermitteln und bedeutet auch hier für den Betrachter, dass es nicht um die Pflege an sich geht, sondern um fiskalische und föderale Zwänge.
Damit kommt dann in einem gedanklichen Zusammenhang das Thema Tariftreue. Nachdem was ich eben gesagt habe, dürfte klar sein dass das Thema Arbeitsbedingungen und was nötig ist für eine gute Pflege nie an aller erster Stelle im Blick war. Neben der Frage der Vergütung sind die Arbeitsbedingungen erwiesenermaßen aber der entscheidende Punkt dafür ob Menschen in der Pflege gerne arbeiten und ob sie auch dort bleiben.
Da geht es vor allen Dingen um die genügende Anzahl von Köpfen und Händen, die planbare Arbeitszeit, planbare Freizeit und Urlaub, und um den Umgang mit seelischer und psychischer Belastung. Pflege ist etwas ganz eigenes, die Strukturen kommen aus hierarchischem Denken, die Menschen, die dort arbeiten, haben besondere Ausprägungen, es ist eine 24/7 Belastung, 365 Tage im Jahr. Diese emotionale Bindung und das permanente Gefühl zu wenig zu leisten sind die entscheidenden Faktoren für eine permanente Überforderung.
Salopp formuliert: wenn Sie heute ein Stelleninserat schalten mit: „jedes zweite Wochenende sicher frei“; Einspringen höchstens dreimal im Monat“, dann können Sie sich alles andere sparen, der Briefkasten und das Mail Postfach werden voller Bewerbungen sein.
Selbst wenn man mehr Personal beschäftigen wollte als die Personalschlüssel hergeben geht das nach gegenwärtiger Systematik nicht, weil es die Rahmenverträge und die Vergütungsvereinbarungen nicht zulassen. Es gab früher schon Vorstöße nach einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag, der in der ersten Runde gescheitert ist und auch jetzt zuletzt wieder.
Das Vorgehen war von Beginn an zweifelhaft wegen des zu geringen Organisationsgerades und wegen der fehlenden Repräsentanz und hat leider am Ende dazu geführt, dass die Caritas öffentlich angeprangert wurde, sie würde eine bessere Entlohnung verhindern. Wobei die Caritas mit die besten Vergütungsregelungen der Branche hat. Das ist leider ein trauriges Beispiel zur Vorgehensweise und zu den Auswirkungen politischer Aktivitäten. Es gibt mittlerweile einen Mindestlohn für Hilfs- und Betreuungskräfte, nunmehr auch für examinierte Pflegekräfte. Nun gibt es das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, darin eingeführt die Regelung zur Tariftreue.
Vorbemerkung: Die Vergütung der Fachkräfte hat auf Grund des Wettbewerbs in den letzten Jahren eine spürbare Entwicklung genommen; natürlich u.a. wegen des Fachkräftemangels und des Wettbewerbs um die Pflegekräfte. Die Ausbildungsvergütung ist überdurchschnittlich, wenn nicht mittlerweile die höchste, selbst mehr als Bankkaufleute, Hotel u.a. begehrte Bereiche. Letztlich handelt es sich um einen dreijährigen Ausbildungsberuf, ähnlich wie Medizinische Fachangestellte, Pharmazeutisch technische Assistenten, Orthopädieschuhmacher, Erzieher, Rechtsanwaltsgehilfen, Steuerfachangestellte, Arzthelferin und ähnliche.
Es kann also sein, dass es bei den Fachkräften vielleicht gar keine große Entwicklung gibt, wohl aber bei den Hilfskräften, was nach meiner Einschätzung das Risiko birgt, dass manche examinierte gar nicht mehr die Ausbildung anstreben , weil die Verantwortung zu hoch (berufsbezogenes Curriculum und Haftungsrisiken) und der Lohnabstand dafür zu niedrig ist.
Leider wurde nicht der eigentlich notwendige erste Schritt gemacht, nämlich die Pflegeversicherung in eine Vollversicherung umzugestalten, oder zumindest im Wege des ebenfalls aus dem schon genannten Gutachten stammenden „Sockel-Spitze-Tausch“ die Eigenanteile der Bewohner zu begrenzen, damit gewollte Leistungsverbesserungen und damit steigende Kosten nicht weiterhin zu Lasten der Bewohner gehen. Es wird also Effekte auf Betriebe geben, es kann sein, dass Leistungen so teuer werden, dass sie nicht mehr nachgefragt werden und Betriebe aufgeben müssen. In dieser Folge wird es eine Angebotsverknappung geben hinsichtlich stationärer und ambulanter Leistungen. Ich sehe große Probleme in der Umsetzung, zeitlich, inhaltlich und von den Ressourcen her. Eine der ersten Fragen, die ich mir nach dem Lesen des Gesetzestextes gestellt habe , war: Was wird tariforientierte Zahlung bedeuten? Geht es um ein monatliches Gehalt? Unabhängig von Sonderzahlungen wie Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld? Was ist mit Zuschlägen, Zulagen, Bewährungsaufstieg, Tabellen, Sonderleistungen, Zusätzliche Altersversorgung? Die jüngsten Informationen zeigen, dass der angedachte Zeitrahmen nicht eingehalten werden kann, eventuell auch der Beginn verschoben werden soll.
Ein weiteres Risiko wird sein, dass viele Mitarbeiter bei höherem Entgelt auf Teilzeit gehen bzw. den Stellenumfang reduzieren, weil ihnen das dann reicht. Entgegen mancher politischer Vermutung gibt es viele Teilzeit Beschäftigungsverhältnisse in der Pflege nicht nur auf Druck der Arbeitgeber und zulasten der Beschäftigten. Natürlich ist es ist für die Dienstpläne positiv wegen der höheren zur Verfügung stehenden Anzahl und damit eine bessere Verteilung der Arbeit. Aber es kommt zum anderen dem Lebensmodell und Entgeltwünschen vieler Mitarbeitenden entgegen. Wer soll die ganzen Entgeltverhandlungen führen? Natürlich vor allem auf Seiten der Kostenträger, aber eben auch Betreiber. Planung und Vorbereitung sind komplex, Dienstleister ausgebucht.
Mögen alle inhaltlichen Unwägbarkeiten für den Abschluss eines Versorgungsvertrages noch machbar sein, kommt die noch wichtigere Frage des Umgangs mit bestehenden Versorgungsverträgen. Ein Versorgungsvertrag ist seinem Wesen nach ein Marktzugang, ausgestaltet wie eine Art Versorgungsverbot mit Zulassungsvoraussetzungen und hat eine Statusbegründende Funktion für den Vertragspartner als Teil des öffentlich-rechtlichen Sozialleistungssystems, aus dem sich für die Pflegeeinrichtung eine besondere Rechtsstellung ergibt. Das ist nicht meine Interpretation, das ist ein Auszug aus einer BT Drucksache 12/5262, S. 137. Ohne Versorgungsvertrag gibt es keine Leistungserbringung. Grundsätzlich können bisher Versorgungsverträge nur beendet werden durch Kündigung, nach § 74 I SGB XI , wenn dauerhaft die Voraussetzungen nach § 72 nicht eingehalten werden, oder auch bei wiederholten gröblichen Pflichtverletzungen und mit langer Frist. Die fristlose Kündigung nach § 74 II orientiert an evidenten pflegerischen Schlechtleistungen und falscher Abrechnung.
Es ist völlig offen, was nun Ende 2022 für Szenarien drohen. Es wäre sinnvoll gewesen, diesen Punkt und die angedachten Szenarien vollständig durchzudenken und zu skizzieren. Bei vielen Trägern geht es um Positionierung und Strategie, bei gleichzeitig geringen Ressourcen für solche Fragestellungen, nicht nur wegen Corona. Bei einer derart einschneidenden und im Aufwand und den Effekten immensen Änderung sind zeitlicher Vorlauf, Planbarkeit und Klarheit der notwendigen Inhalte und Schritte unverzichtbar. Es bleibt wieder mal der Eindruck, dass gewünschte oder als sinnvoll erachtete Änderungen in einer immensen Geschwindigkeit in die Umsetzung gebracht werden sollen, auch hier wieder die Frage nach der Perspektive und dem Maßstab. Wirkliche Wertschätzung und Sinn für Nöte, Belange und Möglichkeiten würde andere Vorgehensweisen und Zeitachsen zur Diskussion stellen.
Übrigens: Auch für Leistungen ohne Vergütungsvereinbarungen braucht es einen Versorgungsvertrag. Die Alternative der Kostenerstattung nach § 91 SGB XI ( 80% der üblichen Leistung der Kasse) bedingt einen Versorgungsvertrag und wäre ohnehin nicht realistisch, weil die Menschen nicht auf diese Entgelte verzichten.
Was ich damit sagen will: ich anerkenne die Bemühungen um eine Weiterentwicklung. Aber ich vermisse die Prüfung aller wichtigen Perspektiven. Manchmal geht Qualität vor Zeit, und es wäre eine Überlegung wert gewesen, solche entscheidenden Schritte sorgfältiger abzuwägen und bei der Umsetzung genauer und mit mehr Planung und Vorlauf vorzugehen. Auch dieser Aspekt hat etwas Grundsätzliches. Was an Anforderungen jedes Jahr in die Betriebe gegeben wird, ist sehr anspruchsvoll, bindet viele Ressourcen und führt u.a. dazu, dass Räume für eigene Innovationen und Ideen, ebenfalls zur Weiterentwicklung rar sind. (Soviel zum oft gemachten Vorwurf: nicht jammern, sondern machen!)
Von der Vorgehensweise und semantischen Darstellung in Verordnungen, Verfügungen und Verwaltungsakten in der Corona Krise ganz zu schweigen, hier hat man entlarvende Beobachtungen machen können. Vor allem waren diese Eindrücke ein Hinweis darauf, wie wenig Perspektive und ein Hineinversetzen in reale Situationen vor Ort eine Rolle spielen, wenn in einer Krise schnell oder auch hektisch gehandelt wird. Jahrelang geübte Errungenschaften waren plötzlich weg. Wo wir jahrelang von „Umzug“ und notwendiger einverständlicher Änderung des Heimvertrages gesprochen haben, wurde nun von „verlegen“ gesprochen und dementsprechend angewiesen.
Wo es immer um Würde, Freiheit und Persönlichkeitsrechte ging, sprach man nun von „absondern/isolieren“ . Wo es eine dezidierte Rechtsprechung zu Freiheitsentzug und freiheitseinschränkende Maßnahmen gibt, ging es bei Demenz sogar soweit, dass von „einschließen“ gesprochen wurde. Wo die Frage der Patientenverfügung und der persönlichen Wünsche für lebensbedrohliche Situationen nicht zuletzt in einem eigenen Paragrafen 132 g SGB V organisiert worden ist, kam es nun zu Abfragen an Einrichtungsleiter mit der Frage welche Bewohner lebenserhaltende Maßnahmen im Krisenfall wünschen. Es entstanden tatsächlich Gemeinsamkeiten zwischen Einrichtungen und Aufsichtsbehörden, die nicht nachvollziehen konnten, was in den Ministerien an Vorschriften erlassen wurde. Hier hätte sich wahre „Wertschätzung“ für die Pflege erweisen können. Tatkräftige Unterstützung statt Regeln ohne Ende mit Zwang zur Umsetzung ohne zeitlichen Vorlauf wären angezeigt gewesen. Schutzmaßnahmen, Hygiene, Lüften, Besuche, Tests….eine Anforderung nach der anderen ist in die Einrichtungen gegeben worden. Das hätte man den Einrichtungen abnehmen müssen und zeigen, dass man um die Belastungen und Besonderheiten weiß.
In Teilen wurde die öffentliche Verwaltung nicht als Hilfe angesehen sondern als erdrückend. Bis hin zum nicht repräsentativen Beispiel letzte Weihnachten, als es um die Evakuierung einer Einrichtung ging. Es gab tatsächlich den Anruf einer Ministerialdirigentin bei einer Geschäftsführerin, die monierte, dass ihre Weihnachtsruhe gestört sei. Tatsächlich waren viele Pflegekräfte so frustriert, dass sie alleine deswegen die Impfung im ersten Schritt verweigert haben. Es geht also um die Frage von Perspektive, Empathie, Hineinversetzen und Hineinfühlen und weniger um die althergebrachte Haltung: „Das ist gut für Dich“ oder „Das muss so sein“. Das bedeutet eine andere Haltung, und es bedarf Führung im bestverstandenen Sinn, nämlich im Sinne und aus der Perspektive derjenigen, die es betrifft. Letztlich so wie sie in der ganzen Wirtschaft heutzutage propagiert wird, im Sinne von Bodo Jansen von Upstalsboom:
„Führung ist eine Dienstleistung, kein Privileg“.
Wirklich erfolgversprechende Reformen sollten nach diesen Kriterien orientieren, dann werden sie durchgreifen. Würde man eine Reform daran orientieren, was sie wirklich bedeutet, welche Folgen sie hat, welche Annahmen tatsächlich stimmen und vor allem welchen Aufwand die Umsetzung bedeutet, dann würde sie sehr viel mehr als solche wahrgenommen.